Gedichte

gedichte ohne ich (2024)

Wo sind die Grenzen des Ich? Bin ich wir? Gibt es ein Ich ohne die anderen? In Krisenzeiten wird dieses zumindest übermächtig. In ihrem neuen Lyrikband erkundet Kirstin Breitenfellner das ich und knüpft thematisch und inhaltlich an ihren Band „Gemütsstörungen“ (2019) an – in dem ein Du im

Zentrum steht. Auch in „gedichte ohne ich“ wählt die Autorin wieder die feste Form des klassischen Sonetts. In den Kapiteln „ermächtigung“, „vergewisserungen“,„kompositionen“, „adoptionen“ oder „gefühle nicht für sich“ begeben sich die Texte aufd die (vergebliche) Suche nach einem festen inneren Kern.

Breitenfellner untersucht aber auch die konkrete Umgebung, in denen das Ich zu Hause ist: seine tagesträume, einkleidungen und wohnräume. ich „giert // nach leben, nach sich selbst / es setzt sich auf die spur“, ist nicht starr, sondern flüssig. Und im Tod wird es aufhören zu sein. Damit beschäftigt sich der

letzte Abschnitt unter dem Titel dekomposition: „mich / gibt es / nicht // ich / werde / erde“, lautet sein Schluss – und das ich ist darüber nicht verzweifelt, sondern vielmehr damit einverstanden.


(Katalogtext)


Rezensionen


Auszeichnungen:


Buch der Woche (13/2024)

Literaturhaus Wien




Sehnsuchts-

überfüllung (2023)

In der „Serenissima“ darf man nicht hoffen, etwas Neues zu sehen oder zu erleben, dachte die Autorin. Wider Erwarten fand sie in diesem lebenden Museum, in dem die Zeit verzögert zu sein scheint, in dieser Stadt schlechthin, die in einer endlos wirkenden Wiederholungsschleife dem Wasser abgerungen werden muss, nicht nur Muße, sondern auch Reflexionen der Geschichte, gespiegelt in der Gegenwart. Si begann, diese Überlagerungen mit der Kamera einzufangen. Und ihr wurde klar: Venedig ist schon lange da, aber jeder, der dorthin kommt, kann es sich auf seine Art aneignen. Wasser stellt das Grundmotiv der dort entstandenen Gedichte dar. Die dazugehörige Fotoserie zeigt Doppel- und Mehrfachbilder in Form von Spiegelungen, Rück- und Durchblicken. Venedig gehört schon lange nicht mehr sich selbst, es wird von Sehnsuchtsreisenden, von Künstlern und Touristen überschwemmt – angezogen von seinem Ruf, seinem Licht, und seiner Lage am Wasser, seinen Kanälen, Gebäuden und Plätzen. Sie trampeln nicht nur auf seiner Geschichte und in seinen Gassen herum, sondern versuchen auch, sich in seine Mauern einzuschreiben. Von dieser Aneignung erzählen die Fotos im zweiten Teil.


arteimago, 104 S., 53 Abb., € 19,– (ISBN 978-3-903025-40-0),
Format A5 quer, zu beziehen über die
Autorin)


Impressionen

Blumen bluten nicht

20.6. bis 29.7.2023

In der Ausstellung Blumen bluten nicht traf Ellen Semens  Malerei auf Kirstin Breitenfellners Gedichte – eine Symbiose aus Bildern und Worten. Der Krieg und die Endlichkeit des menschlichen Lebens gehören für Breitenfellner zu dessen „Sterblichkeitsgewichten“. „Aber der Tod ist auch ein Konstituens des Lebens. Er vereint die Menschen, indem er sie gleichzeitig entzweit, so wie der Krieg. Auch der Tod treibt die Menschheit vor sich her durch die Angst, die er gebiert. Der Krieg ist das Elixier des Todes. Aber der Tod ist auch gleichzeitig das Elixier des Lebens. Ein Paradox“, meint Breitenfellner zu ihren Gedichten.

Genau diesen Themen widmete sich Semen vor nahezu zwanzig Jahre im Werkzyklus Florale Militanz. Florales und Kriegerisches vermischen sich hier zur farbexplosiven Symbiose. Die vordergründig positiv anmutende

figurative Malerei verschafft sich mit idyllischen Szenerien der Natur unvermittelt Zutritt in die Köpfe der Betrachter. Doch ihre Protagonisten scheinen voller Aggression und Hinterhältigkeit. Semens Bildfläche als Schauplatz des Krieges bleibt, manchmal sehr konkret, manchmal versteckt und unterschwellig inszeniert, immer in den Lebens- und

Kraftraum Natur eingebettet.


Impresssionen und Texte

Gemütsstörungen. Sonette (2019)

Lyrik muss heutzutage keinen Regeln mehr gehorchen – aber sie darf. Kirstin Breitenfellner nimmt sich die Freiheit der formalen Strenge und nutzt das geschichtsreiche Sonett entspannt für ebenso philosophische wie sinnliche Überlegungen. Umkreist werden dabei schlicht die Bedingungen des Menschseins zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Zwischen Weltall und World Wide Web, zwischen Ruhmsucht und Einsamkeit, zwischen gefühlter Unabhängigkeit und unabdingbarer Vernetzung versuchen die Protagonisten dieser Sonette – geworfen in verschiedenste unwelten – ihren Platz zu finden. Im zentralen Teil gemütsstörungen stellt jedes Sonett eine einzelne Figur in ihren ganz persönlichen Verstrickungen vor, und der letzte Teil conditio personae versucht vorsichtig,

aus alledem Schlussfolgerungen zu ziehen. Wir begegnen den Einsamen, den Sturen, den Zornigen, den Selbstgewissen, den Gedemütigten, den Müden, den Schönen, den Glücklichen und erkennen im Allgemeinen wie im Besonderen immer auch Teile von uns selbst.

reger reigen (2017)

Die Liebe ist ein Minenfeld, dem man sich nur mit Vorsicht und mit kühlem Kopf nähern sollte. Breitenfellner bewegt sich auf ihm wie eine Forscherin, die es unter ein unbekanntes Volk verschlagen hat. Mit ihren handwerklich sorgsam gebauten Gedichten beweist sie, dass man über Beziehungen schreiben kann, ohne psychologisch zu werden. Ihre Gedichte handeln nicht von Gefühlen, sondern von der Welt im Kopf. Sie spielen mit Wörtern, Wortbedeutungen, Reimen und Rhythmen. Vom Mainstream der zeitgenössischen Lyrik, die oft erzählend daherkommt, setzen sie sich durch ihre Kraft zur Abstraktion ab. Breitenfellners Werkzeug ist eine sachliche Sprache, die vergangene und verborgene Wortbedeutungen zutage fördert und sich dabei unversehens in Assoziationen verfängt, eine Sprache, die stolpert und schließlich doch zu tanzen beginnt. Dabei verändern sich die Wörter, die auf diese Weise die Verwerfungen auf dem Gebiet der Liebe genauso abbilden wie die Evolution des Lebens. Der Band ist zyklisch angelegt: ein „reger reigen“ durch den Kosmos des Menschen, eine Anthropologie in Gedichtform.

das ohr klingt nur vom horchen (2005)

In einer nur scheinbaren Umkehrung der Verhältnisse handeln die Gedichte der jungen Wiener Autorin Kirstin Breitenfellner von der Sinnlichkeit des Denkens und der Vernunft

des Körpers. Zwischen philosophischem Ernst und feiner Ironie hin und her tänzelnd, wachsen diese leichtfüßigen Wortgeflechte zu Zyklen zusammen, über Menschen und Tiere, Stadt und Land. Sie bilden eine Kreisbewegung, in deren Zentrum die Wahrnehmung, die Beobachtung der Welt steht oder vielmehr ihr Widerhall in der Sprache: Von muskelsträngen, sehgeschossen und herzenstuben ist da die Rede, von fleischgericht, büffelkot und flossensaum, von kaufhauskaufrausch, heupferd und gartenruhe.

Der spielerische Umgang mit den formalen Möglichkeiten des Gedichts, die frischen, unkonventionellen Reime und der klare Rhythmus machen Kirstin Breitenfellners Lyrik zu einem

Vergnügen für Verstand und Sinne.

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